Ralf Stegner (SPD): „Make Russia Pay!“

Der einflussreiche SPD-Politiker Ralf Stegner hat die Ukraine besucht. Er ist Mitglied des Deutschen Bundestages (MdB), ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der SPD und enger Vertrauter des Bundeskanzlers. Wir haben die Vorbereitung und Organisation seiner Reise finanziell unterstützt. Stegners Hilfe für die Ukraine kann eine ganz andere Dimension erreichen als unsere: wenn die eingefrorenen russischen Milliarden jetzt als Reparationszahlungen freigegeben werden. Das wäre ein enormer Erfolg!

In diesem Fall fangen wir am Ende an, mit dem letzten Post am 24. August 2024. Dann folgt die ganze Geschichte: „Die Sache mit MdB Ralf Stegner ist mir unangenehm. Ich sehe das Ganze positiv und hoffe, hiermit einen Schlussstrich ziehen zu können. Unsere Freunde und auch politische Beobachter in der Ukraine fragen jetzt, warum ein Freund und enger Parteigenosse von Bundeskanzler Olaf Scholz kein Geld hat, um die Reiseplanung und -vorbereitung zu finanzieren. Keine Ahnung, darum geht es nicht. Wir wurden gefragt, ob wir mit ein paar Tausend für Reisebegleitung und Organisation aushelfen können das war’s.

Enno Lenze und ich haben das gerne gemacht, in der Hoffnung, dass es der Ukraine hilft. Es wäre viel einfacher gewesen, das von Anfang an so zu kommunizieren. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als hätte man es MdB Stegner verschwiegen. Jetzt stehen wir dumm da. Dafür spricht, dass MdB Stegner zunächst behauptet hat, wir würden ihn und seine politische Arbeit böswillig verleumden, so habe ich das verstanden. Ich kenne MdB Stegner nicht und da ich keine Talkshows schaue, wusste ich auch nicht, dass er gerne austeilt. Ich verstehe auch nicht so ganz, warum MdB Stegner in seinem Facebook-Bericht erklärt, die Reise sei auf seinen Wunsch ohne Social Media und Presse erfolgt, obwohl er selbst vom Gespräch mit ARD Korrespondent Vassili Golod in Kyiv spricht und auf dem veröffentlichten Foto aus Lwiw der deutsche Journalist Jan-Philipp Hein zu sehen ist, der bereits hervorragend aus der Ukraine von der Front berichtet hat. Sei’s drum.

Warum sehe ich das positiv? Ich schließe mich der Meinung von Mattia Nelles an, der die Reise organisiert hat: „Viele Gesprächspartner waren überrascht, mit welcher Klarheit sich Stegner für die Konfiszierung aller russischen Vermögen im Westen aussprach im Gegensatz selbst zum SPD-Bundeskanzler“. Die Rede ist von 210 Milliarden Euro. Ich teile diese Rechtsauffassung. Ausführlich begründet hat sie Rechtsanwalt Patrick Heinemann im Online-Rechtsmagazin LTO. „Nach den völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit schuldet Russland der Ukraine jedenfalls Reparationen in noch viel größerer HöheIm Ergebnis gibt es weder völker- noch verfassungsrechtlich durchgreifende Bedenken, das russische Zentralbankvermögen zu konfiszieren und der Ukraine zuzuwenden. Ein solcher Schritt wäre nicht nur legal, sondern auch bitter nötig, um die Durchhaltefähigkeit der Ukraine zu sichern.

lto.de/recht/hintergruende/h/make-russia-pay-russische-milliarden-ukraine-eingefroren?

Reparationen sind nichts Außergewöhnliches. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Deutsche Reich im Versailler Vertrag zu Reparationen in Höhe von 20 Milliarden Goldmark verpflichtet, was nach heutigen Schätzungen etwa 100 Milliarden Euro entspricht. Der Irak hat 2021 nach 30 Jahren alle Reparationen an Kuwait beglichen – 46 Milliarden Euro. Sie waren ihm 1990 nach dem Golfkrieg auferlegt worden. Da ist die Summe von 210 Milliarden Euro von Russland an die Ukraine sicher angemessen – als Anzahlung. Denn bereits im März 2023 bezifferte die Weltbank den Schaden, den Russland der Ukraine durch seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zugefügt hat, auf rund 411 Milliarden Euro.

Uns war von Anfang an klar, dass wir zur Ukraine andere Auffassungen vertreten als MdB Stegner, aber, so Enno Lenze, in einer Demokratie muss man versuchen, andere für seine Position zu gewinnen. Genau das war unser Ziel bei der Unterstützung von Planung und Vorbereitung der Reise. Es scheint, als wären wir diesem Ziel erfolgreich ein Stück näher gekommen. „Mit eigenen Augen sehen“, das ändert die Wahrnehmung.

Die von uns finanzierte Reiseleitung von Herrn Stegner hatte im Vorfeld keine Zeit gefunden, die Details mit uns abzusprechen. Das wäre praktisch gewesen, da dann unsere Kollegen in Kyiv bei der Planung und Durchführung hätten helfen können. Er meldete sich aber nach Abschluss der Reise und erklärte, dass die Reisekosten nur einen kleinen Teil des zur Verfügung gestellten Geldes ausgemacht hätten. Daher habe seine Beratungsfirma ein Vielfaches der Reisekosten als Honorar für ihn veranschlagt, um die gesamte Summe zu verbrauchen. Dafür bedankt er sich. Mit uns war das vorher anders besprochen – aber wir leben nach dem Motto: „Jetzt wird in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“. Also geben wir ihm den Bonus.

In einem langen (hier stark gekürzten) Post auf Facebook hat Ralf Stegner seine Eindrücke und Erlebnisse schon auf der Rückfahrt am 23. August 2024 aus dem Zug festgehalten (fett von uns):

Hinter mir liegen sehr ungewöhnliche Tage mit beeindruckenden Begegnungen und bedrückenden Besuchen, inspirierenden Menschen und sehr ernsten Gesprächen, mit Wertschätzung und Leidenschaft, Traurigkeit und Lebensmut, mit neuen Erfahrungen und Orientierung, mit viel Zuhören, emotionaler Prägung und am Ende mit reichlich Stoff zum Nachdenken und Herausforderungen für Herz und Verstand. Informationen sammeln, eigene Einschätzungen immer wieder überprüfen und nachjustieren und jedem Gegenüber den Respekt zollen, neben Offenheit auch Ehrlichkeit zu zeigen, wenn es jenseits des hohen Maßes an Übereinstimmung da und dort auch unterschiedliche Auffassungen gibt. Das gilt gerade unter Freunden und es kann kein Zweifel bestehen, dass wir an der Seite der Ukraine stehen, wenn diese sich gegen den imperialistischen Angriffskrieg Russlands tapfer verteidigt und vieles an Grausamkeiten des Krieges zu erdulden hat. Ich erlebte immer wieder sehr viel Dankbarkeit für die deutsche Unterstützung in all ihrer Vielfalt von politischer, finanzieller, humanitärer Hilfe bis hin zur militärischen Unterstützung – und auch wenn gerade im letzten Punkt – verständlicherweise – auch ukrainische Wünsche bestehen, denen wir nach reiflicher Überlegung und aus guten Gründen nicht nachkommen können oder sollten, überwiegt bei weitem das Gemeinsame und die Solidarität.

Mein Besuchsprogramm im kleinsten Kreis und ohne Ankündigungen oder begleitender Social Media oder Pressearbeit entsprach meinem Wunsch, mich aus erster Hand zu informieren, mich auf die Menschen, Institutionen und Orte intensiv einzulassen und Voreingenommenheit möglichst zu vermeiden, also Schlussfolgerungen auch sorgfältig zu überdenken.“

Diese Erklärung klingt plausibel und vernünftig. Stegner will sich selbst ein Bild machen und nicht unter dem Druck stehen, wertend kommentieren zu müssen, bevor er etwas Abstand zu den Eindrücken gewonnen hat. Den „imperialistischen Angriffskrieg Russlands“ als solchen zu bezeichnen, bedeutet eine radikale Abkehr von bisherigen Positionen, die von der Suche nach Ausgleich und Kooperation mit Russland bestimmt waren.

Ralf Stegner (rechts) mit Begleitern und Journalisten in Lwiw. Foto: Mattia Nelles.

„… Beim Besuch der Synagoge stand die reiche jüdische Geschichte der Stadt Lemberg im Mittelpunkt, mit ihren bedrückenden und dunklen Seiten in der Nazidiktatur und den optimistischen Plänen der jüdischen Gemeinde in der Gegenwart ungeachtet der Kriegswirklichkeit.

Ich verfolgte in Lviv auch einen bewegenden Trauerzug für gefallene Soldaten, wie das täglich in den großen und kleinen Städten überall in der Ukraine zu beobachten ist, wenn das öffentliche Leben kurz still steht, das ansonsten nicht immer sofort die Kriegsrealität zeigt, wären da nicht die Luftalarme, die Warn Apps oder die Kriegsverwundeten, die im Straßenbild wahrzunehmen sind.

Beim Besuch des „Unbroken“ Rehabilitationszentrums, einer der größten Einrichtungen für schwer verwundete Kriegsopfer, die Arm- oder Beinprothesen benötigen, ihr Augenlicht verloren haben oder gelähmt sind, … verwundet an Körper und Seele, sprach ich mit Patienten und Ärztinnen und Ärzten … Ich traf auf große medizinische und psychologische Kompetenz, inspirierenden Optimismus …

Das leidenschaftliche Engagement beim außerordentlich professionellen Werben für dringend benötigte Unterstützung sprang mich ebenso an wie die immer wieder geäußerte Dankbarkeit für die deutsche Hilfe, die gerade im humanitären Bereich so ausgeprägt und wichtig ist, wiewohl das in der deutschen Öffentlichkeit bislang kaum Beachtung findet …

Bei jedem der Termine ging es auch immer wieder um die militärische Unterstützung und den Wunsch nach Waffen, um sich gegen die quantitative Übermacht der russischen Aggression zur Wehr setzen zu können. Da spielten dann gar nicht immer politische Haltungen eine Rolle sondern der Bruder oder Vater, Sohn oder Freund, Nachbar oder Arbeitskollege, der an der Front ist, in Gefangenschaft leidet oder verletzt wurde, vielleicht auch sein Leben verloren hat …

In Kiew erlebte ich nicht nur selbst mehrmals Luftalarme, die insbesondere in der Nacht zu einer ungewöhnlichen Schlafanzuggemeinschaft der Hotelgäste im Bunker der Tiefgarage führte, sondern Stromausfälle und nächtliche Ausgangssperren und Durchsagen, Sirenen und eindringliche akustische Signale der Warn Apps mit den Kartendarstellungen der Angriffsziele im ganzen Land … Sehr aufwühlend war auch der Besuch des Kinderkrankenhauses Ohmatdyt, das im Juli von einem Raketenangriff am helllichten Tag getroffen wurde und bei dem wie durch ein Wunder nicht mehr als zwei Menschen getötet wurden …

Ich traf die frühere Justizministerin und enge Vertraute von Präsident Selenskyi im Präsidentenoffice Iryna Mudra und wir erörterten den Umgang mit beschlagnahmten russischen Assets in Europa. Ich bin persönlich dafür, nicht nur über die Verwendung von Zinserträgen zu beraten, sondern die eingefrorenen Mittel für den Wiederaufbau dessen zu nutzen, was die Zerstörung des russischen Angriffskrieges angerichtet hat. Das sagte ich meiner Gesprächspartnerin auch und die Bedenken wegen des Finanzplatzes Deutschland halte ich für wenig zielführend …

Ich besuchte das ARD Studio in Kiew und diskutierte mit Studioleiter Vassili Golod und seinem Team über die Erwartungen in der Ukraine an Deutschland und über die Haltung der Regierungskoalition sowie die Debattenlage in der Sozialdemokratie. Ein Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Kiew Martin Jäger gehörte ebenso zu meinem Programm …

In Yahidne im Oblast Chernihiv besuchte ich die Schule, in deren Keller die Dorfbevölkerung tagelang eingepfercht, misshandelt und verletzt, terrorisiert und teilweise auch getötet wurde, bis die Befreiung durch ukrainische Truppen kam. Gespräche mit Betroffenen und das, was der Ort unmittelbar verriet zeigen die Grausamkeit der Kriegsverbrechen, die auch hier Traumatisierung und Zerstörung hinterließ.

Im Juni 2023 war Enno Lenze (Foto) in diesem Keller in Yahidne. Damals, als die Russen die Stadt besetzt hatten, war er überfüllt, es gab nichts zu trinken, die Luft war furchtbar. Tote lagen im Keller.

Mit einer Runde von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern … sprach ich über die Herausforderung der Raketenangriffe für Schulen und Kindergärten, 70 km von der belorussischen und 80 km von der russischen Grenze entfernt. Beim Treffen mit Parlamentskollegen aus der ukrainischen Rada … ging es natürlich einmal mehr um das ganze Spektrum der Fragen deutscher Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf. Auch hier mit viel Übereinstimmung, freundschaftlicher Sympathie aber eben auch Dissens in militärischen Fragen und leidenschaftlicher Diskussion über unterschiedliche Sichtweisen, Erfahrungen und Prämissen. Unter Freunden schuldet man sich auch, keine Lippenbekenntnisse und falsche Versprechungen zu machen – gerade auch angesichts und trotz der dichten, emotionalen, berührenden und verstörenden Eindrücke eines solchen intensiven Besuchsprogramms, das die Schrecken des Krieges bei mir noch einmal nachdrücklich bestärkte, die mich nicht zum Pazifisten (geht als Deutscher nicht nach der militärischen Befreiung von den Nazis, die auch in der Ukraine gewütet haben) aber zum entschiedenen Kriegsgegner machen …

Was bleibt, ist so schnell nicht zu sagen. Wir müssen alle, scheint es auch noch so schwer und wenig erfolgversprechend zu sein, wirklich alle Anstrengungen unternehmen, dass der Krieg aufhört und die Ukraine nachhaltigen Frieden und Sicherheit zu Bedingungen erhält, die das souveräne Land selbst akzeptieren kann. Gleichzeitig bleibt meine Skepsis, dass dieser scheußliche und brutale Angriffskrieg, für den Putin alleine die Verantwortung trägt, dadurch schneller und erfolgreich beendet wird, dass immer mehr und immer offensivere Waffen ohne Einsatzbeschränkung geliefert werden. Ob Zeitenwende wirklich Vorfahrt für Waffenexporte und Rüstungsindustrie, … Militärinvestitionen statt Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfen … heißen kann und soll, womöglich muss, das ist jedenfalls nicht meine unmittelbare Schlussfolgerung.“

Ralf Stegner, Facebook, 24. August 2024

Vieles muss man jetzt erst mal sacken lassen. Menschliches, Anrührendes, Schockierendes, Emotionales, manches neu, vieles bekräftigendes, einiges zweifelndes, da geht einem ganz unterschiedliches durch den Kopf und Herz und Verstand sind immer gleichermaßen berührt.

Das war in dieser Woche in vielerlei Hinsicht der Fall … Differenzierung, eigene Abwägungen, Neujustierung und Zweifel und gleichzeitig Grundüberzeugungen, sich einlassen auf Unbekanntes, Unangenehmes, Forderndes – da kommt vieles zusammen, was nicht sofort in Schubladen gepackt und mit der flotten Oberflächlichkeit der Social Media Kommunikation erledigt werden kann …“

Die Aufzeichnungen von Ralf Stegner, sozusagen sein Tagebuch, zeigen, wie reflektiert er ist. Positionen können sich ändern. Aber derzeit ist der Tenor immer noch: Der Ukraine weniger mit Waffenlieferungen zum Sieg verhelfen, sondern humanitäre Hilfe leisten und beim Wiederaufbau dabei sein. Das gilt seiner Meinung nach wohl auch für „Make Russia Pay“. Das eingefrorene Vermögen soll dem Wiederaufbau dienen, nicht der Verteidigung gegen den Angriffskrieg, nicht aktuell dem Kauf von Waffen. Dennoch: Dieses Geld wäre ein großartige Hilfe für die Ukraine. Wenn MdB Stegner dazu beitragen würde, diese Summe freizubekommen, würde er in der Ukraine als Held gefeiert werden.

Nur Aufbau, aber keine Waffen schicken zu wollen, das scheint ein Widerspruch zu sein. Obwohl er seine eigene Position infrage stellt, ist sich Ralf Stegner möglicherweise nicht bewusst, dass er – meiner Meinung nach – in einem ideologisch bedingten Denkfehler verharrt. Sicher ist ihm aber nicht bewusst, dass das Verteidigungsministerium der Ukraine seine Einschätzungen wahrnimmt. Der Kommentar, der uns dazu erreichte: „It is closed circle – not stopping the war – more destruction – more reconstruction. However if Putin wins – all previously provided help (money, weapons) will be pointlessly lost.“ [Es ist ein geschlossener Kreis – der Krieg wird nicht beendet – mehr Zerstörung – mehr Wiederaufbau. Aber wenn Putin gewinnt – ist alle Hilfe (Geld, Waffen) umsonst.]

Ohne Vorbereitung und Planung hätte diese Reise nicht stattfinden können. Wir betrachten es als vollen Erfolg, einen Beitrag zu den Erfahrungen und Erkenntnissen dieser Reise eines der wichtigsten Entscheidungsträger in Deutschland geleistet zu haben. Unsere Hoffnung ist, dass „Make Russia Pay“ in die Tat umgesetzt wird – und dass es vielleicht doch noch zu einem größeren Verständnis dafür kommt, dass moderne Waffen für den Sieg über die imperialistische Aggression notwendig sind.

Der Beitrag von Jan-Philipp Hein im FOCUS aus dem PressReader

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