Juli 2024, Besuch beim Bruder des Kommandanten der Schlangeninsel, der verschollen ist

Idylle vor Sonnenblumenfeld. Aber: Es gab keinen Tag ohne russische Angriffe mit Raketen oder Drohnen auf Odessa. „Mein Onkel war Kommandant der Schlangeninsel. Er meldete sich freiwillig an die Front. Seit sechs Wochen ist er verschollen.“

Mit Natalia besuche ich ihre Eltern auf dem Land. Ihr Vater berichtet von seinem Bruder und drückt mir zum Abscheid eine Dose Honig in die Hand, Sonnenblumenhonig, der beste, den ich je in meinem Leben gegessen habe.

Es fällt mir schwer zu erzählen, wie dieser Krieg ist – und noch schwerer, das aufzuschreiben. In den Supermärkten fehlt es an nichts. Die Restaurants in Odessa sind voll. Die Oper ist ausverkauft. Auf dem ständigen Buchmarkt im Stadtpark drängen sich die Kunden.

Gleichzeitig gibt es jede Nacht und jeden Tag Fliegeralarm. Es gibt keinen Tag, an dem Odessa nicht von den Russen mit Raketen oder Drohnen angegriffen wird. Auf meiner App sehe ich, wann die Raketen gestartet sind, wie nah sie an der Stadt sind, dann höre ich die Sirenen. Es gibt keine Bunker. Odessa war eine friedliche Stadt, nicht auf den Krieg vorbereitet. Während ich dies in Berlin um 12.20 Uhr schreibe, erscheint auf meiner App Raketenalarm in Odessa.

Jeden Tag Raketen – und jeden Tag Geburten. Natalia ist freiberufliche Hebamme. Das heißt: Kinder holen, Geburtsvorbereitungskurse für Schwangere und Väter geben, also das genaue Gegenteil von Tod und Zerstörung. Ihre Freundin, eine Gynäkologin, soll eingezogen werden. „Was soll ich an der Front? Ich kann Geburten begleiten, aber keine Soldaten zusammenflicken“. Die Ukraine ist kein militarisiertes Land. Immer noch nicht. Diese Ärztin hatte ich gefragt, ob es Friedensverhandlungen geben soll. „Natürlich soll es Friedensverhandlungen geben und der Krieg muss aufhören. Sonst gibt es in zehn Jahren keine ukrainischen Männer mehr!“ sagte sie mir. „Und wie viel könnte die Ukraine abgeben?“ – „Hä? – Nichts!!! Die Russen sollen sich verpissen!“ Ständig habe ich das in vielen Gesprächen genau so gehört, aber gedacht, das ist nicht repräsentativ, nichts zum wirklich veröffentlichen. Neulich berichtete aber der Tagesspiegel über eine tatsächlich repräsentative Umfrage, die zum gleichen Ergebnis kommt, das nur scheinbar widersprüchlich scheint. Zugleich lehnt der überwältigende Teil der Befragten die von Putin ins Spiel gebrachten Bedingungen für einen Frieden ab.“ Tenor ist: Der Krieg soll endlich aufhören. Aber wir unterwerfen uns den Russen nicht. 

Zurück zur Geburtsärztin: Sie feiert jedes Neugeborene und die Eltern genau dort, wo heute Anerkennung öffentlich kommuniziert werden kann, wo es jeder mitbekommt, auf Instagram: „Mit Freudentränen wurde eine Schönheit geboren. Ich habe das Gefühl, dieses Mädchen wird viele Männerherzen brechen!“

Meine Empfehlung: selbst hinfahren. In Berlin (oder irgendwo in Deutschland, Koblenz, Köln …) in den Bus einsteigen und in Odessa aussteigen. Das kostet 100 Euro. Oder mit dem Flugzeug nach Chișinău in Moldawien und mit dem Bus vier Stunden nach Odessa, das kostet auch 100 Euro. Bei Airbnb kann man ein Zimmer buchen. Am Geld kann die Reise also nicht scheitern.

Der Krieg ist nicht immer und überall. Es gibt die Raketenangriffe auf Wohngebiete in den Städten, der reine Terror. Ich habe bei meiner letzten Reise viele Städte besucht und über diesen russischen Terror berichtet. Es gibt die Angriffe auf die Infrastruktur, besonders auf die Stromnetze. Da fliegen zwanzig Drohnen und Raketen aus verschiedenen, auch unterwegs wechselnden Richtungen auf ein Ziel. Das ist kaum abzuwehren. Und da ist die Front, das Schlacht-feld, mit tausend toten Russen am Tag und unzähligen toten Ukrainern. Es ist wie im Ersten Weltkrieg. Im Bunker läuft ein Video, das mit einer Drohne von uns aufgenommen wurde: Eine Geisterlandschaft wie in Belgien oder Frankreich im Ersten Weltkrieg. Auch diese Fotos zeigen wir im Bunker.  „Mann mit Beine ab“ ist für die Kinder das Schrecklichste.

Wenn wir an Krieg denken, haben die meisten von uns einen Bombenteppich vor Augen, fast völlig zerstörte Innenstädte. Ich denke an meine Mutter, die in der thüringischen Kleinstadt Schmalkalden lebte. Beim ersten Bombenalarm am 20. Juli 1944 rannte sie mit ihrem Vater aufs Dach, um das Spektakel zu beobachten. 30 B-24 Liberator zerstörten einen Teil der Industrie, aber die meisten Bomben fielen auf einen bewaldeten Berg, die Queste. Dieser Angriff und der nächste am 6. Februar 1945 waren alles, was sie vom Krieg mitbekam. Es gab Tote, Verletzte und schwere Schäden an Häusern und Industrieanlagen. Für die damals 19-Jährige war das ein beeindruckender Anblick. Auf dem Land war der Krieg wenig präsent. Die Nachkriegszeit unter russischer Besatzung war für die Schmalkalder schwieriger.

Ljudmila ist Sekretärin des Dorfs. „Ich mache hier die Politik.“ Sergej ist Lehrer, er unterrichtet Musik. Ich kann einige Stunden mit ihnen verbringen und ihnen ein Loch in den Bauch fragen. „Hier oben auf dem Hügel kommt kaum Wasser an. Unten wird zu viel verbraucht, auch für die Gärten und den Rasen. Das soll nicht sein, ist aber so.“

Sergej hat etwa 40 Bienenstöcke. Die Bienen sind gesund. Sie schaffen ein gutes Nebeneinkommen. Er erzählt die Geschichte wie nebenbei, als müsse er auf mich Rücksicht nehmen, dass sein Bruder war viele Jahre lang Kommandant der Schlangeninsel war, bis kurz vor Beginn des (vollen) Kriegs. Dann meldete er sich freiwillig zum Militär. Er wird an der Front vermisst. Das Gebiet ist jetzt russisch besetzt. Man weiß nicht, was mit ihm ist. Ich kann mir das nur abstrakt vorstellen, nicht die Gefühle, die damit verbunden sind: einen Helden in der Familie zu haben, der sich für die Ukraine einsetzt, der den wichtigsten Vorpost im Schwarzen Meer verteidigt hat. Was ist, wenn die Familie Meldungen wie diese liest: „Die Ukraine hat von Kriegsgegner Russland die Leichen von 250 Soldaten zurückerhalten. Es seien unter anderem Überreste von Gefallenen aus dem Donezker Gebiet bei Bachmut, Marjinka und Awdijiwka, aber auch aus der Hafenstadt Mariupol übergeben worden, teilte der Koordinierungsstab für Kriegsgefangenenbelange bei Telegram mit.“ – Tagesspiegel, 2. August 2024.

Exkurs Schlangeninsel

Als Natalia mir vor einiger Zeit erzählt hatte, wie oft sie auf der Schlangeninsel war, dachte ich, sie nimmt mich auf die Schippe. Jeder, der sich nur irgendwie mit dem Krieg beschäftigt, kennt die Memes zur Schlangeninsel.

Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen. Am selben Tag fand auch der Angriff auf die Schlangeninsel statt: ein kleines, felsiges Stück Land vor der rumänischen Küste, recht weit vom ukrainischen Festland entfernt. Russland schickte einige Kriegsschiffe zur Insel, um sie einzunehmen. Darunter das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, die Moskwa

Von ihr ging ein Funkspruch an die ukrainischen Grenzsoldaten, auf Russisch:

Moskwa: „Schlangeninsel, ich, das russische Kriegsschiff, wiederhole das Angebot: Legt die Waffen nieder und ergebt euch oder ihr werdet bombardiert. Habt ihr mich verstanden?

Ukrainer 1: „Das war’s dann wohl. Oder sollen wir ihnen sagen, dass sie sich ficken sollen?

Ukrainer 2: „Warum nicht?“

Ukrainer 1: „Russian warship, go fuck yourself.“

Ukrainer 1 ist Roman Hrybov, dessen Spruch ikonisch werden sollte: „Russian Warship – Go Fuck Yourself“. Ein Audiomitschnitt wurde bald in den sozialen Medien verbreitet, vor allem bei YouTube, wo das Video innerhalb von 24 Stunden fast 900.000 Views sammelte.

Das ist irre, die Post greift Memes auf und Präsident Selenskyj stellt die Briefmarken vor. Propaganda von unten nach oben. Ohne Propagandaminister, von der Basis entwickelt.

Im Berlin Story Bunker haben wir schon vor langer Zeit (2023) eine Ausstellung zu ukrainischen Memes im Krieg gemacht. Propaganda ist unser Thema. Aber so eine Propaganda hat es noch nicht gegeben. Sie macht den Feind verächtlich und dient der Selbstbestätigung. Zur Erinnerung: Unsere Ausstellung mit den Memes wurde vom Nationalen Militärhistorischen Museum in Kyiv übernommen.

Die Moskwa, die beim russischen Überfall auf die Ukraine 2022 als Flaggschiff im Einsatz war, sank bereits am 14. April 2022 im Schwarzen Meer. Durch zwei ukrainische Seezielflugkörper vom Typ Neptun war es zu einem Brand und zu Explosionen gekommen.

Der Spott ließ nicht lange auf sich warten. Soweit zur Schlangeninsel und ihrer Bedeutung. Die Ukrainer sind so gut mit ihren Memes!

Nach dem Krieg will ich mit Natalia erstmal auf die Schlangeninsel, aber dann vor allem eine Beach Party auf der Krim veranstalten.

Wieland bei den Bienen. Ich soll mich schützen. Ich werde geschützt, damit mir nur nichts passiert, nicht einmal der Stich einer Biene. Dabei denke ich daran, dass ich nicht in die unmittelbare Nähe der Front gefahren bin, weil ich dadurch andere gefährden würde, die mich schützen wollen. Bei Bild-Reporter Paul Ronzheimer ist das anders: Er hat Reichweite und die Verpflichtung, zu berichten. Da bringt es etwas, ihn zu schützen.

Der Honig von den Sonnenblumen ist eindeutig der Beste – unbeschreiblich! Ich stehe jetzt vor der Situation, wie ich den Wabenhonig und das Honigglas in meinen Rucksack bekomme, der bei meiner Abreise schon voll war. Flixbus – Odessa nach Berlin direkt, nur 28 Stunden, tatsächlich aber dann 33 Stunden, weil es an der polnischen Grenze lange gedauert hat. Plus zwei Stunden Rucksack duschen, weil das Honigglas trotz mehrere Plastiktüten teils ausgelaufen war – nur ein Drittel.

Auf dem Land geht der Unterricht ganz normal weiter. Dort fliegen keine Raketen. „Mit den Smartphones – ich habe den Eindruck, dass die Konzentrationsfähigkeit der Kinder deutlich nachgelassen hat, seit ich als Lehrer angefangen habe.“

Die Verwaltungszentrale von Ljudmila. „Mit 30 Mitarbeitern verwalten wir eine Gemeinde mit 6000 Einwohnern.“ Sie begann als Buchhalterin, stieg in politische Ämter auf und wurde inzwischen mehrfach als Gemeindesekretärin wiedergewählt. Zehn Mitarbeiter mussten gehen. Sie waren zu sehr auf der Seite der Russen. Ist das gut oder schlecht? „Gut, ich muss wissen, dass ich mich auf meine Leute verlassen kann.“ Wer entscheidet das? Die meisten sind von sich aus gegangen. Bei einigen hat der SBU das vorgeschlagen.“ – Der Sicherheitsdienst der Ukraine. Vor zwei Jahren, zu Beginn des Krieges, habe ich zehn Tage auf dem Gelände des SBU in Kyiv gewohnt. Die MitarbeiterInnen sahen nicht nach Stasi aus. Ich hatte den Eindruck, dass den überwiegend jungen Frauen und Männern über 30 ihr Land am Herzen lag. Es gab viele amerikanische Berater – auf Augenhöhe.

Die Gemeindereform, sagt Ljudmila, sollte seit Beginn des Krieges zugunsten der Zentralisierung Stück um Stück zurückgedrängt werden. „Wir wehren uns mit Händen und Füßen. Wir wissen, was wir hier in der Gemeinde brauchen und wie wir uns organisieren wollen.“

Der Ort liegt 86 Kilometer von Odesa entfernt. Es gehört zum Einzugsgebiet. Landflucht – ja, aber hier in erträglichen Grenzen, weil die Jüngeren am Wochenende kommen. „Wir haben in den Schulen weniger als ein Prozent junge Lehrer.“ Die Schulen sind voll, weil Kinder aufs Land zu den Großeltern evakuiert werden. Es geht mit dem Mietwagen erst über eine Autobahn (Tempo 130), dann Landstraße (Tempo 90), dann Piste (Tempo 5 oder so).

Gegenüber auf dem Dorfplatz dominiert das Denkmal für die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges. Auf der Tafel sind über 400 Gefallene verzeichnet. Daneben befinden sich der Kindergarten und das Kulturhaus.

Ländlich, sehr gut gepflegt, modern. „Wir sind sehr gut über die Diskussion zur Asylpolitik in Deutschland informiert.“ Große Gärten, ordentlich bestellte Felder. Die Ukraine in die EU? „Ambivalent. Für die Bauern wird es möglicherweise nicht besser. Wir sehen jeden Tag die ausufernde Bürokratie in Brüssel. Unsere ist schlimm genug.“

Ich habe an die zehn Storchennester gesehen. Es ist noch feucht genug, aber von einem großen Fluss, den wir auf einer Brücke überqueren, ist nichts mehr zu sehen außer einem Schilfstreifen. Am Überschwemmungsgebiet kann man erkennen, wie mächtig er einst gewesen sein muss.

Blau – Gelb, die Nationalfarben. Es ist nicht nur ein solches großes Feld, jede Menge. Aber keine Monokultur. Dazwischen Weizen, aber auch andere Feldfrüchte.

Video, 9 Sekunden Fahrt entlang eines Sonnenblumenfeldes. Immer noch gibt es Hecken zwischen den Feldern.

Odessa, der Markt. Man fühlt sich wie im Paradies, wenn man von diesen Früchten nascht, die am Baum reif geworden sind – überhaupt nicht zu vergleichen mit dem, was wir im Supermarkt kaufen. Die Markthalle ist riesig. Man sieht, dass sie lokal bedient wird, dass die Stadt tatsächlich noch vom Umland versorgt wird.


Mit vegetarisch oder vegan ist es hier nicht so weit her. Aber diese Art der Ernährung wird auch nicht als exotisch angesehen. In allen Restaurants gibt es vegetarisch, es gibt vegetarische Restaurant. In Kyiv noch viel mehr. Meine ukrainische Besucherin in Kreuzberg bei Hasir “Endlich Fleisch!“


Noch allgemein: Die Versorgung mit Lebensmitteln und Benzin klappt. Ich kann das nur beurteilen, wo ich war, nicht an der Front. Ganze Kolonnen Tankzüge fahren zur Front. An einem anderen Tag war ich im Süden. Der Kraftstoff kommt vom Hafen Ismajil. Er wird immer wieder von den Russen beschossen. Teile der Raketen sind mehrmals in Rumänien gelandet. Der Krieg ist auch eine sagenhafte logistische Leistung. Schabo, das ist ein Weingut, also eher eine Weinfabrik. Leider hatten die gerade zu.
Jetzt nur noch warten auf Strom, dann kann ich posten. Ich hatte Teile dieses Textes erst auf X.